Grazia Deledda: Schilf im Wind

Ein Klassiker aus Sardinien

Die italienische Literaturnobelpreisträgerin Grazia Deledda (1871 – 1936) kannte ich bisher nicht. Sie erhielt ihre Auszeichnung 1926 als zweite von insgesamt bisher nur 14 Frauen nach Selma Lagerlöf (1858 – 1940), unter anderem für ihren 1913 erschienen Roman Schilf im Wind. In ihrer Begründung lobte die Jury „ihre von hohem Idealismus getragene Verfasserschaft, die mit Anschaulichkeit und Klarheit das Leben ihrer väterlichen Herkunft schildert und allgemeinmenschliche Probleme mit Tiefe und Wärme behandelt.“ Der Manesse Verlag hat diesen Klassiker nun in überarbeiteter Übersetzung und mit über 100 Anmerkungen sowie einer editorischen Notiz von Jochen Reichel neu herausgegeben.

Aus der Zeit gefallen
Im Mittelpunkt von Grazia Deleddas Gesamtwerk steht die Insel Sardinien, wo sie geboren wurde und bis 1900 lebte. Obwohl Schilf im Wind ungefähr zu seiner Entstehungszeit spielt, wirken Ort und Handlung archaisch. Zentrale Themen sind die alten patriarchalen Familienstrukturen, Standesunterschiede, Verschiebung von Armut und Reichtum, Traditionen, Ehre, Schuld, Buße, Liebe, Katholizismus, Aberglaube und heidnische Fabelwesen.

Schuld und Sühne
Hauptcharakter ist der Knecht Efix, der jedoch nicht selbst erzählt. Er bewirtschaftet für die verarmten adeligen Schwestern Pintor ein Gut unterhalb ihres verfallenden Wohnhauses in Galte, die letzten ihnen verbliebenen Besitztümer. Seit vielen Jahren erhält er keinen Lohn von Donna Ruth, Donna Ester und Donna Noemi, trotzdem bindet ihn eine geheime alte Schuld an das tragische Schicksal der Familie „mit der er verwachsen war wie das Moos mit dem Felsen“ (S. 152). Einst nutzte die vierte Schwester, Donna Lia, seine unpassende Verliebtheit aus, um sich von ihm zur Flucht vor ihrem despotischen Vater Don Zame verhelfen zu lassen. Dieser wurde kurze Zeit später tot an einer Brücke aufgefunden. Die drei verbliebenen Schwestern wollten Lia ihren Ausburch und ihre unstandesgemäße Ehe auf dem Festland nicht verzeihen, fühlten sich entehrt und blieben unverheiratet. Nach Lias Tod kündigt nun deren Sohn Don Giacinto seinen Besuch an. Nur Efix freut sich, denn er hofft, dass sich die Erstarrung der Schwestern löst und ihr Schicksal sich wendet. Als dieser Wunsch mit dem labilen jungen Mann nicht in Erfüllung zu gehen scheint und seine Pläne zu scheitern drohen, legt sich Efix weitere Buße auf.

Schilf im Wind. © B. Busch

Märchenhaft und metaphernreich
Gut möglich, dass in meine Beurteilung von Schilf im Wind Achtung vor dem Literaturnobelpreis und einer Autodidaktin, die nur vier Jahren die Schule besuchte, einfließen, außerdem meine Vorliebe für die handlichen Manesse-Bändchen mit ihrer Fadenheftung und dem lesefreundlichen Druckbild. Auch wenn die Beweggründe und Handlungen der Charaktere mir nicht immer einsichtig waren und das Buch ab etwa Seite 300 mit Efix‘ Wanderung im Kreis der Bettler von Heiligenfest zu Heiligenfest vorübergehend Längen hatte, bin ich froh über die Begegnung mit dieser italienischen Autorin. Die linear erzählte Geschichte in lyrischer Sprache mit magischen Anklängen, die sich am Ende wie ein Kreis schließt, fremde Sitten, Traditionen und Verhaltensmuster, viele Naturschilderungen und Metaphern, für die das sich im Wind biegende, titelgebende Schilf nur ein Beispiel ist, lohnen das Lesen:

„Warum bricht uns das Schicksal, wie der Wind das Schilf bricht?“
„Ja“, sagte Efix da, „wir sind tatsächlich wie das Schilf im Wind, liebe Donna Ester. Genau deshalb! Wir sind das Schilf, und das Schicksal ist der Wind.“ (S. 353)

Grazia Deledda: Schilf im Wind. Aus dem Italienischen übersetzt von Bruno Goetz. Anhand der Originalausgabe von 1913 überarbeitet und mit Anmerkungen versehen von Jochen Reichel. Nachwort von Federico Hindermann. Manesse 2021
www.penguinrandomhouse.com

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